Vieles von dem, was nun nach und nach ans Licht kommt, war im Prinzip bekannt. Spätestens seit dem ECHELON-Skandal, der in den neunziger Jahren die kritische Öffentlichkeit und das EU-Parlament beschäftigt hat, muss davon ausgegangen werden, dass die NSA für die US-Sicherheitsbehörden weltweit alle irgendwie technisch erreichbaren Daten erfassen, weitergeben und analysieren und dabei auch mit der Wirtschaft kooperieren. Die Gebetsmühle, wonach die Überwachung mit dem 11. September und den traumatisierten USA ursächlich zusammenhingen, kann also in dem Zusammenhang getrost eingemottet werden.
Die gar nicht genug zu würdigenden Enthüllungen des Whistleblowers Snowden haben in aller Deutlichkeit und Dramatik „nur“ den derzeit aktuellen Stand der staatlichen Begierden und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung ans Licht gebracht.
Das Treiben deutscher und ausländischer Geheimdienste verläuft seit Jahrzehnten unkontrollierbar. Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses existiert hierzulande schon lange nicht mehr. Da die technische Entwicklung Informationssammlungen und Informationsauswertungen in ungeheurem Umfang möglich macht, nimmt der Verfassungsbruch noch nie dagewesene Ausmaße an – wenn er nicht konsequent gestoppt wird. Dazu fehlt aber schlicht der Wille.
Erst die Rede von Wirtschaftsspionage und dem Abhören der Regierungsetagen hat die Bundesregierung vom Tiefschlaf in den Halbschlaf befördert – die Überwachung der Bevölkerung alleine hätte sie kaum in Sondersitzungen und in die USA getrieben. Die Überwachung der Bevölkerung rechtfertigen sie in aller Unschuld noch immer mit dem Kampf gegen den Terror. Doch um Terrorbekämpfung geht es schon lange nicht mehr, ja vermutlich ging es im Kern darum noch nie.
Bis heute gibt es seitens der Bundesregierung keine ernsthaften Aufklärungsbemühungen. Und auch SPD und Grüne halten sich aus schlechten guten Gründen zurück. Die SPD erließ zusammen mit den Grünen mit den sogenannten Otto-Paketen nicht nur umfangreiche Schnüffelgesetze, sondern stellte mit Otto Schily jahrelang den Bundesinnenminister. Gegenüber den USA verhielt er sich so, wie es deutsche Innenminister gerne tun: Vor die Frage gestellt, unterwürfig oder kumpelhaft zu sein, wählen sie beides. Und der heutzutage wochenlang nicht auffindbare Geheimdienstkoordinator Pofalla hatte einen Vorgänger namens Steinmeier, in dessen Amtszeit die USA illegale Gefängnisse in Europa unterhielten und den Luftraum über Deutschland für illegale Entführungen nutzen konnten.
Die immer lückenlosere Datenerfassung der Bürgerinnen und Bürger und ihre Auslieferung an eben den jetzt so verbalradikal angegangenen großen Bruder haben alle abgehörten Institutionen hierzulande und in der EU nicht nur in Ordnung gefunden – sie haben sie selbst aktiv und gegen Widerstand einer kritischen Öffentlichkeit und der inner- und außerparlamentarischen Opposition vorangetrieben und durchgesetzt: Fluggastdaten (PNR), Bankdaten (SWIFT), Vorratsdatenspeicherung und vieles mehr. Nationale Instrumente wie Kontenabruf, Bestandsdatenauskunft, TKÜ – ebenfalls alles mit Zustimmung und dem aktiven Betreiben der jetzt Empörten. Die Rechtsgrundlagen mögen andere sein – die Logik dahinter ist dieselbe. DIE LINKE hat diese Logik immer kritisiert, als einzige Partei im Bundestag stets konsequent gegen den Ausbau des Überwachungsstaates gestimmt und sich für eine Umkehr in der Innen- und Sicherheitspolitik eingesetzt. Und diese Wende ist dringender denn je. Denn das schleichende Gift der Überwachung zerstört seit Jahren die Gesellschaft und berührt inzwischen die Grundlagen einer Gesellschaft, die demokratisch sein will. Unbeobachtet und unangepasst kommunizieren zu können sind entscheidende Grundlagen demokratischen Engagements.
Nur wenn es jetzt gelingt zu verhindern, dass Geheimdienste mit oder ohne Billigung ihrer Regierungen weiter umfassende Überwachungen und ggf. sogar Manipulationen der Kommunikation aller Menschen durchführen und so die Grundsätze eines demokratischen Rechtsstaats unterlaufen, können wir die Deformation der Demokratie aufhalten und sie reparieren. Erst wenn Gesetze, Abkommen und Verträge auf den Stand moderner Bürgerdemokratien gebracht wären; wenn die Auflösung der unkontrollierbaren Geheimdienste angepackt würde und Verhältnisse hergestellt wären, in denen alltägliche Lebensäußerungen wie die Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr Anlass wären, die staatlichen Sammel- und Auswertemaschinen anzuwerfen, wären wir wieder auf dem Weg in eine freie Gesellschaft.